Raben Junge
Grüne Oase, Kinder, Kinder, Lieblingsplätze, Tierische Begegnungen
Kann ein Kind in einem verwunschenen Park erwachsen werden? Die etwas andere Park-Geschichte, poetisch und mit einem Hauch Phantastik.
von Antje Ippensen
Diese Geschichte beginnt in einem Park.
Vor langer Zeit war er prachtvoll. Gepflegt und gleichzeitig von einer natürlichen Lebendigkeit, die jeden Menschen bezauberte. Kleine Seen und noch kleinere Teiche durchzogen ihn wie Edelsteinschalen, mit träumerisch ruhigen Wassern gefüllt.
Der Junge kam oft hierher. Der Park war der einzige Ort, an dem er sich selbst spürte. Der Ort, an dem der Zeitstrom langsam und gemächlich floss. Draußen in der lauten Welt war die Zeit beschädigt, kaputt, in Fetzen. Wie sonst war es zu erklären, dass der Junge dort draußen meistens noch nicht einmal wusste, wie alt er war und was für Pflichten ihm jeweils gerade auflauerten? Mal war er groß und hatte zu arbeiten, hatte einen Job, hatte zu telefonieren, endlos und angestrengt, künstliches Lächeln ins Gesicht gegraben, dann wieder ging er noch zur Schule und schrieb Klassenarbeiten, immerzu, eine nach der anderen, oder er lauschte in stickigen Zimmern auf monotone Stimmen. Dann wieder telefonieren. Telefonieren. Telefonieren … Das eintönige Tuten im Hörer. Begrüßung. Fragen. Dank und Abschied. Feierabend.
Die Welt da draußen schien ihm manchmal ein einziges riesiges Telefon zu sein.
Andere Menschen wischten wie Schemen an ihm vorüber, mit Überschallgeschwindigkeit; so wirkte es auf ihn. Und auch sie wirkten so, als verstünden sie nicht recht, was mit ihnen vor sich ging. Sie keuchten durch ihr Leben.
Aber im Park war – Einatmen. Innehalten. Still sein. Der Junge mit dem dunklen Haar und den ernsten Augen wanderte allein durch diese grüne und blühende Stille, und er kannte jedes Fleckchen, hatte seine verschwiegenen, verträumten Lieblingsplätze. Er liebte die Flamingo-Insel, das Rondell mit den ausgedehnten Rhododendron-Hecken, voller Blüten von Rosa bis Purpur, und jene Stellen tief im Inneren des Parks, die nach Walderde und Pilzen dufteten und wo ein lustiger Bach hindurchströmte. Dort gab es einen ganz bestimmten Baumstumpf, ausgehöhlt und mit Wasser gefüllt. Dann war da noch der schmale Strandstreifen an einem der Teiche, von mannshohem Schilfrohr umgeben, das geheimnisvoll wisperte, wenn eine leichte Brise hindurchstrich.
Noch mehr aber als über all diese Orte freute sich der Junge an seinen Begegnungen mit den Tieren des Parks, mochten es nun die zahlreichen Vögel sein, von denen einer sogar sprechen konnte … oder die behäbig durch das dichte Gras kriechenden Riesenschildkröten … oder die ganz besonderen, klugen Bauernhoftiere am Rande des Parks. Mit dem einzigen Esel des Hofes hielt der Junge lange, stumme Zwiegespräche über den Zaun hinweg.
Es lebte hier auch eine ausgesprochen stolze Katze, von der der Junge selten mehr als den Schweif oder eine rasche Bewegung erspähte – sie schien dennoch hin und wieder seine Gesellschaft zu suchen. Er respektierte ihre Eigenart und versuchte nie, Nähe zu erzwingen.
Die Tiere liebten ihren Park genauso, wie er es tat, das spürte er, und auch mit den anderen menschlichen Parkbesuchern war der Junge im Grunde einverstanden.
Es gab nur ein einziges Zusammentreffen, das ihn ein wenig irritierte: das mit dem anderen Jungen. Der war ihm ähnlich und doch wieder nicht. Er hatte etwas Wildes und Frisches und Zupackendes an sich, eine Raschheit der Bewegungen und ein … nun ja, ein wirklich bemerkenswertes Lachen. Der Junge mit dem dunklen Haar war sich sicher, dass dieser Andere so gewaltig lachen konnte, dass es durch den ganzen Park schallen würde … Aber bei ihrer einzigen direkten Begegnung lächelten sie einander nur scheu an und sagten Hallo.
Nicht lange nach dieser Begegnung stellte der Junge etwas höchst Seltsames fest. Etwas Unwägbares, Undefinierbares ging mit dem Park vor sich, und er brauchte lange, bis er es auch nur einigermaßen in Worte fassen konnte – zu benommen war er in letzter Zeit durch das Leben in der rastlosen Telefon-und-Schulwelt da draußen, das ihm sinnloser denn je vorkam. Taumelnd fast erreichte er seine Zuflucht, den Park.
Ja, etwas veränderte sich hier.
Der Junge stand stirnrunzelnd mitten auf einer Wildgraswiese – kniehoch waren Halme und Kräuter – und blickte sich um. Auf einmal schnipste er mit den Fingern. Richtig! Es kamen immer weniger Besucher hierher. Von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde fast schrumpfte ihre Zahl, ganz offensichtlich, und zwar ganz egal ob es regnete oder die Sonne schien. Anfangs hatte sich der Junge darüber gefreut, denn das hieß auch, dass seine Lieblingsbänke häufiger frei waren und er sich überhaupt noch unbefangener durch den Park bewegte. Aber allmählich vermisste er die anderen Menschen doch, vor allem diejenigen mit freundlichen Sonnengesichtern.
Und außerdem … zögernd blickte der Junge an sich herunter: Diese Wildwiese hier, war sie nicht noch vor kurzem eine sauber gemähte Grasfläche gewesen, auf der Liegestühle standen? Wo waren die Scharen netter Gärtner und Gärtnerinnen, die hier alles tadellos in Schuss hielten? Wo waren die LIEGESTÜHLE? „Da hinten, da ist noch einer“, murmelte er vor sich hin, angestrengt umherschauend. Aber als er näher kam, sah er, dass dieser Liegestuhl halb zerbrochen und im MORAST versunken war. Morast? Wo gab es denn Sumpf unter den Besucherplätzen! Das war doch höchst gefährlich, das durfte nicht sein! Das hatte es auch noch nie gegeben, auch nach heftigen Regenfällen nicht, und wenn so etwas doch passiert wäre, dann hätte man die riskante Stelle abgesperrt!
Wie ein kleiner Pfeil aus Eis traf den Jungen die Erkenntnis: Der Park verwilderte. Er wurde AUFGEGEBEN! Endgültig wurde ihm das klar, als er zum Bauernhof eilte: Der sah aus, als sei er schon vor vielen Jahren verlassen worden; das Holz der Scheunen und Zäune rottete vor sich hin, und auf dem Misthaufen blühte Unkraut, offenbar schon seit vielen Generationen.
Die Tiere waren weg.
Auch die Flamingos hatten ihre Insel im See verlassen.
Oh, es gab schon noch ein paar wilde oder halbwilde Tiere, aber sie alle schienen auch sozusagen auf gepackten Koffern zu sitzen.
Etwas getröstet entdeckte der Junge, dass auch die Gitterstäbe der großen Vogelvolieren durchgerostet und alle gefiederten Bewohner ausgeflogen waren. Also musste kein Vogel verhungern.
Die Augen des Jungen strahlten auf, als urplötzlich der Beo auftauchte und sich auf seine Schulter setzte.
Beo, was ist nur los?, fragte der Junge. Weshalb passiert das alles hier? Was ist mit dem Park?
Er verschwindet, antwortete der kluge Vogel.
Aber wieso?
Weil die Menschen ihn nicht mehr genug lieben.
Der Junge dachte einen Augenblick darüber nach. „Dann werde ich hier bleiben und dafür sorgen, dass etwas übrigbleibt!“, sagte er laut und leidenschaftlich. „Mit meiner Liebe zu diesem Park! Ich schaffe es!“
Na gut, meinte der Beo. Dann halte ich mich in deiner Nähe.
Seine Krallen drückten kurz die Schulter des Jungen, dann flog er los, um hoch oben im trüben Grau des Himmels zu kreisen.
Der Junge wanderte zur waldähnlichen Mitte des Parks und trat dort zu jenem mit Wasser gefüllten Baumstumpf, der wie ein Spiegel war oder wie ein tiefes, dunkles Auge. Er sah hinein.
Was er da sah, erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen: Er sah sein eigenes Gesicht, erst jung, dann immer älter werdend, in unaufhörlichem Prozesse … bis aus seinem glatten Antlitz ein Greisengesicht geworden war, dessen Augen in runenartige Fältchen eingebettet lagen. Was ihn faszinierte, war das Lächeln in diesem gealterten Spiegelgesicht.
„Du wirst es allein nicht schaffen“, ertönte hinter ihm die Stimme des Anderen Jungen.
Er wirbelte herum. Doch da war niemand.
Der Andere Junge sollte jedoch recht behalten. Immer mehr griff die Zeitverworrenheit der Außenwelt auch auf den Park über. Seine Seen verwandelten sich in Kloaken, Müllberge türmten sich an seinen früheren Grenzen auf, und die Jahreszeiten spielten verrückt. Es war doch eigentlich Juni, herrlicher warmer Sommerbeginn, oder nicht? Und doch schneite und hagelte es immer häufiger, und Blumenwiesen wurden zu Steppen-Mooren, die abgestorben und braun halb verdorrten, halb im Schlamm versanken.
Auf wie gerupft wirkenden Bäumen sah er häufiger einen Rabenvogel, den er nicht mochte.
Keine anderen Menschen und immer weniger Tiere. Von der Katze fand er nur ein paar Fellflocken, die er verzweifelt einsammelte und in seine Tasche einsteckte. Immer wieder tasteten seine Finger danach.
Irgendwann begriff der Junge, dass er hier fort musste. Nur wie? Er fand den Weg hinaus nicht mehr. Mühselig ernährte er sich von verschrumpelten Beeren und Nüssen – die ganz bestimmt verdorben waren! – und trank widerwillig brackiges Wasser dazu (das ganz bestimmt voller Keime war!).
Inmitten des trostlosen Chaos ringsum, das einst ein Park gewesen war, fand er schließlich die Rettung, wie es schien: einen einzigen sauber gemähten Grasstreifen, der sich wie ein einladender Pfad davonschlängelte. Nur wohin? Und war der Ort, zu dem ihn dieser Weg führen würde, wirklich besser als der hier?
Der Junge zögerte. Er konnte sich nicht entscheiden.
Und dann musste er auf einmal voller Schrecken mit ansehen, wie die Krankheit, wie er sie bei sich nannte, auch auf den Pfad übergriff. In Sekundenschnelle wucherte zähes Gras empor, krautig und dicht, und Schlingpflanzen griffen nach den Füßen des Jungen.
Er schrie erstickt auf. „Hilfe“, dachte er, „ich brauche Hilfe …!“
Obwohl er kaum selbst daran geglaubt hatte, kam diese Hilfe auf der Stelle: Der hellfarbige Esel vom Bauernhof trabte gemütlich heran, als könne dies alles ihn nicht bekümmern, und sehr geduldig und ausdauernd begann er, sich in den Pfad hineinzufressen. Rupfend mähte er das widernatürlich sprießende Gras und warf hin und wieder aufmunternd einen Blick zurück auf den Jungen.
Mit wild klopfendem Herzen betrat der Junge diesen Weg, folgte dem Esel … er fürchtete bei jedem Schritt, in namenlose Abgründe zu fallen oder nicht mehr vom Fleck zu kommen.
Und bebte nicht wirklich die Erde unter seinen Füßen? Und kam von vorn nicht tatsächlich eine Nebelwand heran, die ihn blind machte und den Pfad verschlang? Blindlings stolperte der Junge vorwärts, griff nach dem Esel, doch er behielt nur ein paar raue Haare in seiner Hand zurück, während das Tier in dem geisterhaften Grau entschwand.
Er war jetzt ganz allein. Verlassen. Wo war nur der Beo, der versprochen hatte, immer in seiner Nähe zu bleiben? Tiere logen doch nicht!
Gerade als der Junge vollends verzweifeln wollte, erklang von irgendwoher das Lachen des anderen Jungen und gab ihm Kraft.
Er holte tief Luft und ging tapfer in den immer dichter werdenden Nebel hinein, Schritt für Schritt.
*
In einer anderen Zeit, am Rande einer leeren, schwarzen Straße, unter der einmal ein Park lag. Die Straße scheint eine Autobahn zu sein, aber kein einziges Auto fährt auf ihr. Am Straßenrand steht ein riesiges Handy-Werbeplakat, zerbeult und verblichen, windschief und regenfleckig.
Und wenn man genauer hinschaut, dann scheint auch mit dem Asphalt der Straße etwas nicht in Ordnung zu sein … denn hier und dort sind Löcher aufgebrochen, und junges, frisches Grün schiebt sich energisch hindurch.
Dem uralten Werbeplakat gegenüber, am anderen Straßenrand, steht der Junge, der jetzt erwachsen geworden ist.
Er lächelt. Seine Augen sind wie zwei Edelsteinschalen, mit klarem Wasser gefüllt. Er steht ruhig da, entspannt und aufrecht. Nur seine rechte Hand ist zur Faust geballt.
Langsam öffnet er sie und schaut zu, wie ein paar Haare und etwas Fell davonfliegen in einer leichten Sommerbrise.
Auf der Schulter des Jungen sitzt der Beo.
Ich musste dich damals allein lassen, weißt du, sagt er.
Ja, antwortet der Junge. Jetzt verstehe ich das.
Er holt Atem. Es klingt wie ein Seufzen. „Aber was ist mit dem Park?“, fragt er leise und traurig.
„Sieh nur: Er wird gerade jetzt wiedergeboren“, sagt der Beo.
„Meinst du wirklich? Sag mal, Beo, hast du eigentlich einen Namen?“
„Ja. Ich heiße Luise“, gibt der Vogel zur Antwort und fügt selbstbewusst hinzu: „Und nach mir wird man den neu entstehenden Park benennen.“
Der Junge schaut auf den aufbrechenden Asphalt der Straße und lächelt.
Diese Geschichte endet in einem Park.