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Hühnerjagd im Luisenpark – ein Tatsachenbericht aus dem Jahre 1990

Der Januar der Jahres 1987 ließ mich um Jahre altern: ich wurde Tante! Der Neuankömmling, auf den Namen Jasmin getauft, nennt sich selbst `Minnie` – aus mir macht der Kindermund `Idi`. Jasminchen ist ein Tramp. An den Wochenenden reist sie gerne in der Familie umher und so kam es auch zu folgender Geschichte.

Mein Telefon läutet. „Hallo?“
„Hallo, Idi, Minnie will Samstag mal Hisepark hin!“ Würden Sie das verstehen?

Ich schon, denn inzwischen spreche ich perfekt `babyanisch`. Hier die Übersetzung:

meine Nichte Jasmin will mit Tante Iris mal wieder einen Tag Überlebenstraining proben. Ziel der Übung ist dieses Mal der Luisenpark. Widerstand ist zwecklos, auch das habe ich schon gelernt, da Jasminchen in diesem Fall unverzüglich ihr gefürchtetes Indiandergeheul anstimmt, was der Telefonleitung und meinem Gehörgang einen dauernden Schaden zufügen könnte.
Also füge ich mich in mein Schicksal, überprüfe am Samstagmorgen noch schnell Lebens- und Haftpflichtversicherung und meinen Vorrat an Beruhigungspillen. Jasminens Eltern, wie immer pünktlich bei Lieferung,  drücken mir mitfühlend die Hand und verschwinden mit einem zufriedenen Lächeln. Das Gepäck liegt bereit: Kinderwagen mit Kind, Windeln, Schirm, trockenes Brot für die Enten und Würstchen für Jasmin – nun gibt es kein Zurück mehr – auf zur Straßenbahn!

Im `Hise-Park` angekommen, erklimmen wir die Stufen zum Pflanzenschauhaus. Jasminchen steht misstrauisch vor dem Krokodil-Becken.“Dil böse. Minnie Angscht hat!“ Ich halte einen wissenschaftlichen Vortrag über Reptilien im allgemeinen und Krokodile im besonderen, denn ich habe bisher nie erlebt, dass sich bei diesen mehr bewegt hätte als die Augen. Jasminchen drückt vertraulich ihre Bäckchen an die Scheibe und plötzlich und unerwartet kommt Leben ins Terrarium.
Die Krokos trainieren ihren Einsatz für den nächsten Tarzan-Film, reißen den Rachen auf, fauchen wie die Straßenkater und blecken schwanzpeitschend die Zähne in Jasminens Richtung, die entsetzt zurückspringt. „Schnell weg Idi, Dil pommt!“

Glücklicherweise parkt der Eiswagen vor der Tür und wir genehmigen uns eine Portion auf den Schreck. Ich erkundige mich nach Jasminchens weiteren Wünschen. Sie legt die Stirn in Falten und befiehlt „Minnie will jetzt Boot hin!“
An der Gondoletta sehe ich ein großes `Kind -und -Gepäck-Verlade-Problem‘ auf mich zukommen. Als wir an der Reihe sind, klemme ich mir Kinderwagen, Tasche und Jasmin unter den Arm und überlege, wie ich einsteige, ohne kopfüber ins Wasser zu stürzen. Aber alle Sorgen sind überflüssig, denn ein freundlicher junger Mann verstaut Tasche und Wagen im Boot und entbietet mir seine Hand als Stütze. (Ist heute wieder so, aber aus anderen Gründen.)
Ich atme erleichtert auf, greife blitzschnell nach Jasmin, die gerade versucht, den Enten ihren Regenmantel zum Fraß vorzuwerfen. „Sonne jetzt da – Hegemantel weg!“ Als Ersatz für den Regenmantel krame ich trockenes Brot aus der Tasche.
Enten – und sonstige Tierfütterungen (damals noch erlaubt) haben mich schon immer fasziniert. Aber Jasminchen missgönnt mir mein Vergnügen und entreißt mir mit einem energischen „Minnie Brot habbe will“ mein steinhartes Brötchen und wirft es schwungvoll der nächsten Ente vor den Schnabel, worauf diese erschrocken untertaucht.

Nach der Rundfahrt zieht mich Jasminchen am Ärmel. „Minnie jetzt Wuscht habbe will! Minnie Hunder hat!“ Auch mich plagt der `Hunder` und wir finden zwei Liegestühle am Kutzer-Weiher. Würstchen, Brötchen und Apfelsaft ausgepackt – wir schmausen gemütlich, als es hinter uns bedrohlich zischt. Drei riesige Graugänse watscheln auf uns zu, die Hälse in froher Erwartung einer milden Gabe kampflustig vorgereckt. Jasminchens Stirn ist gefährlich umwölkt: die Gänse überragen sie um Haupteslänge und kommen vertraulich näher. Krampfhaft hält sie ihre Wurst fest.

„Idi, Minnie Angscht hat!“
„Keine Sorge, Jasmin. Die Gänse haben auch Hunger. Gib ihnen etwas von deinem Brötchen und sie sind zufrieden!“

Doch diese Gänse sind nicht so feinfühlig wie erhofft und zwicken dem Kind gierig in den Finger, woraufhin sich ihre Mundwinkel nach unten verziehen: ein sicheres Anzeichen für ein baldiges Einsetzen des gefürchteten Indianergeheuls!
Ich beende das Picknick und ziehe die brüllende Jasmin mit einem fröhlichen `Komm schnell, wir gehen zum Bauernhof` über die Wiese. Die Gänse folgen uns, leise zischelnd, entdecken aber glücklicherweise eine andere Futterstelle auf zwei Beinen.
Das Kind heult und hält mir schniefend ihren verletzten Finger unter die Nase. Der winzige, rote  Fleck, den ich tröstend be-puste, ist mit bloßem Auge kaum erkennbar.

„Jasmin, pfft, pfft, auf dem Bauernhof, pftt, pftt, gibt`s auch Hühner!“

Augenblicklich sind Schmerz und Gänse vergessen.

„Dänse doof, Minnie jetzt Hihner hin!“

Auf dem Bauernhof saust Jasminchen zwischen Ziegen-, Pferde-, Kuh-, und Schweinestall hin und her. Von den Hühnern ist sie restlos begeistert. Sie will unbedingt eines mit nach Hause nehmen, womit die Hühner nicht einverstanden sind und nervös gackernd davon flattern. Jasmin stiefelt eilig hinterher, glücklicherweise ohne Erfolg. Dafür bekommt sie rote Bäckchen und wieder `Hunder`. Also verzehren wir unser restliches Picknick. Jasmin kaut und plappert munter vor sich hin, abwechselnd auf die Kühe und die Schweine zeigend. Ich schließe die Augen und brummle ab und zu `Ach ja, wirklich?“

Erst als mir ein frischer Wind ins Gesicht bläst, wache ich auf. Wo ist das Kind?

Ihr Geplapper kommt aus dem Schweinepferch. Mitten zwischen den rosigen Ferkeln sitzt sie und will die schmutzigen Schweinekinder von der Notwendigkeit eines reinigenden Bades überzeugen. „Wein muss jetzt baden oder Mama sagen Mutzfink!“
Ich kann sie gerade noch rechtzeitig aus dem Pferch ziehen, bevor der Wärter aus dem Kuhstall kommt, um misstrauisch nach den panisch quiekenden Ferkeln zu sehen.
Als es zu regnen beginnt, flüchten wir in ein kleines Kinderhaus auf dem Spielplatz am Freizeithaus.  Jasmin findet es gemütlich und verlangt nach Apfelsaft. Leider ist der Saft leer, aber nach der aufregenden Schweinejagd hat sie unstillbaren Durst.

„Minnie jetzt Abbelsaft habbe will. Minnie Duscht hat. Biiittee!“

Dieses infernalische Gebrüll ist im Freien schon schlimm genug, auf engem Raum nicht zu ertragen. Wir laufen zum Kiosk, wo Jasminchen Apfelsaft schlürft und ich meine Lebensgeister mit einem Pott  Kaffee erwecke. Danach strebe ich vorsichtig dem Ausgang zu – das Kind erhebt keinen Widerspruch. .

Am Abend schlummern wir beide frühzeitig auf dem Sofa ein. Allerdings quält mich ein schlimmer Alptraum: ich bin Noah und betrete meine Arche. Doch was  muss ich sehen, als ich das Tor öffne? Die Arche ist voller Hühner und Jasminchen sitzt mittendrin!

Iris Welling

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