Baumfarnhaus

Die Forscherin

Die Forscherin

 

„Achtung!“

Ich reiße den Kopf zur Seite.

„Da! Da vorne!“

Finn steht über mir. Eine Spinne in seiner Hand. Schwarz, klebrig, die Beine streifen meine Wangen. Ich schreie, ducke mich und werfe mit den Armen um mich.

„Finn! Machs weg. Machs weg, verdammt!“

Finn lässt die Spinne fallen. Sie landet auf meinem Gesicht. Ich springe auf. Die Füße bewegen sich wie von selbst. Ich renne zu den zwei Steinen gegenüber vom Pflanzenschauhaus. Da sind die hohen Steine, aus denen Wasser sprudelt! Ich strecke den Kopf unters Wasser und wische die Spinne aus dem Gesicht.

„Wwaaah!“ Ich schüttle den Kopf. Wie ein Propeller.

Auf einmal steht Finn neben mir. Er fängt an zu lachen, krümmt sich zusammen und hält eine Hand auf den Bauch. „Oh man, hast du dich erschreckt, Lina!“ Er bückt sich und hebt die Spinne auf. „Das war genial!“

Ich inspiziere die Spinne genauer. Sie ist handtellergroß, immer noch schwarz und klebrig, aber ziemlich unlebendig.

„Was soll das?“, rufe ich. „Du weißt, wie sehr ich Angst vor Spinnen habe.“ In den Augen sammeln sich Tränen. Ich bespritze Finn mit Wasser. Dann renne ich zum Pflanzenschauhaus. Davor sitzt Mama und ihre Freundin Lana, Finns Mutter.

„Ich bin im Pflanzenschauhaus!“, ruft er.

Dann renne ich die Stufen hinauf. Kein Bock auf Mama! Oder auf Lana. Und erst Recht nicht auf Finn! Finn ist richtig dumm …

„Lina!“, ruft Mama. Ich sprinte an ihr vorbei.

Ich bin eine Forscherin. Eine viel bessere Forscherin als Finn! Ich laufe durch das Baumfarnhaus, bestaune die riesigen Pflanzen, die gen Himmel ragen. Stelle mir vor, einmal hochzuklettern. An so einem dicken, festen Stamm, und gegen die Fensterscheibe zu klopfen. Aber das kann ich nicht machen. Hier sind zu viele Menschen. Und dann würde ein Aufseher kommen und mich zu Mama und Finn bringen! Ich will forschen!

Mama und ich haben eine bestimmte Route durch das Pflanzenschauhaus: Zuerst zu den Kakteen, danach zu den Schmetterlingen, schließlich in den Ausstellungsraum, zu den Fischen und zuletzt zu den Riesenpflanzen. Ich will die Route genau anders herum laufen. Etwas Neues entdecken! Wie eine Forscherin.

Ich verlasse das Baumfarnhaus, gehe zu den Schlangen. Betrachte die ellenlangen, sich windenden Körper. Beobachte, wie die Schlangen kurz ihre Münder öffnen, die Zähne blecken und dann wieder mit der Umwelt verschmelzen.

Ich schwitze. Atme ein, aus, ein, aus. Bin bis hierher gesprintet, habe keine Kraft mehr. Ich setze mich auf eine Bank. Direkt vor mir in der Vitrine ist ein Chamäleon. Sehe dem Farbenspiel zu. Wie das Tier die Hautfarbe von grün zu blau, zu lila und schließlich zu rot wechselt. Wie lustig! Ich musste öfters hierher kommen …

Auf einmal eine tiefe Stimme: „Na, hast du dich verlaufen?“

„Was?“ Ich schrecke hoch. Neben mir ein alter Mann mit Hut und Gehstock. „Wer sind Sie?“, frage ich leise. Der Mann soll weggehen! Ich darf doch nicht mit Fremden reden …

„Ich bin der alte Paul. Ich komme jeden Tag in den Luisenpark. Und ich erkenne jedes ausgerissene Mädel, das Forscherin spielen will.“

Ich lehne mich von dem Mann weg. Was soll das? Wieso sagte dieser Mann so was? Wer gab ihm überhaupt das Recht, so gemein gegenüber mir zu sein? Aber dann lacht Paul. Anscheinend meinte der das gar nicht so böse ….

„Na komm, wollen wir beide Forscher spielen. Für einen kurzen Moment, bis deine Mama dich findet. Ich passe immer auf, bis die Eltern ihre ausgerissenen Kinder wieder finden. Um deine Mama habe ich mich bestimmt auch schon gekümmert!“

Paul trägt eine Brille auf der Nasenspitze. Sie bewegt sich bei jedem Wort, das Paul sagt.

„Ist der Luisenpark schon so alt?“ Mit aufgerissenem Mund blicke ich den alten Paul an.

Dieser nickt nur. Wir blicken gemeinsam zu dem Chamäleon. Jetzt tapst es zu dem Teich in seinem Reich innerhalb der Vitrine und trinkt ein bisschen.

„Wie heißt du denn?“, fragt der alte Paul.

„Lina.“

„Und wie alt bist du, Lina?“

„Sieben!“

„Na, da bist du ja fast eine große Forscherin!“

Ich nicke stolz. „Ich hoffe, dass Mama mich nicht so schnell findet. Ich mag es, Forscherin zu sein. Und Finn ärgert mich immer so oft …“

„Finn? Wer ist denn Finn?“

„Finn ist ganz böse! Naja, eigentlich ist er nett. Aber vorhin hat er mir eine Spinne ins Gesicht geworfen!“

„Das geht aber gar nicht. Aber lass mich raten: War es eine künstliche Spinne?“

Ich blicke zur Seite. „Hmm … joa …“

„Das ist doch nicht schlimm, sich vor einer Spinne zu erschrecken. Das habe ich auch früher gemacht.“

Ich zucke mit den Schultern. „Es ist trotzdem peinlich, sich vor einer unechten Spinne zu erschrecken …“

„Na, na“, sagt der alte Paul. Dann deutet er zu der Ecke, wo der Weg weiterverlief. „Wollen wir mal zu den Schildkröten gehen?“

„Au ja!“, schreie ich, laufe um die Ecke und gucke durch die Glastür. Dahinter ist ein kleiner Raum, der Boden weich ausgelegt, die Wände ebenfalls verglast. Darin trotten fünf Schildkröten umher. Die Glasscheibe beschlägt unter meinem Atem.

„Stimmt es, dass Schildkröten hundert Jahre alt werden können?“, frage ich. Aber ich bekomme keine Antwort.

„Paul?“ Immer noch nichts. Ich wackle mit dem Kopf hin und her. Wo bleibt der alte Mann denn?

„Lina!“ Eine hohe Stimme. Lina dreht sich um und da kommt Mama auf sie zugeeilt.

„Mama!“, ruft ich. „Hast du Paul gesehen?“

Mama antwortet ihr nicht, sie umarmt sie stürmisch. „Oh Gott, Lina, ich hab mir so Sorgen gemacht. Du darfst niemals wieder wegrennen, hast du verstanden?!“

Ich nicke. Schaut auf den Boden. „Kein Nachtisch heute! Und wenn wir wieder zu Hause sind, will ich für den Rest des Tages nichts mehr von dir sehen. Du isst zu in deinem Zimmer zu Abend!“

„Es tut mir leid“, flüstere ich. Eigentlich tut es mir nicht wirklich leid. Ich will mich sofort wieder mit Mama vertragen. Mama muss Paul kennen lernen! Wenn sie weiß, dass er auf mich aufgepasst hatte, würde sie sofort alle Strafen wieder zurück nehmen. Bestimmt!

„Mama, komm mal, ich muss dir jemanden zeigen.“ Ich nehme sie bei der Hand und führe sie um die Ecke. Aber Paul sitzt dort nicht mehr. Er ist verschwunden.

Mama will mir nicht glauben, dass der alte Paul sich um mich gekümmert hat. Sie lächelt, während sie das sagt. Ich will es ihr nicht abnehmen!

Als wir durch das Baumfarnhaus zurück nach draußen gehen, höre ich wie Mama leise sagt: „Danke, Paul.“

Ich tue so, als hätte ich nichts gehört. Was hatte der alte Paul vorhin zu mir gesagt?

Um deine Mama habe ich mich bestimmt auch schon gekümmert.

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